„Wenn dein Kind stirbt, stirbt deine Zukunft“
09. Dezember 2023
Vorab brauche ich einige Informationen zu Ihrer Person. Sie sind Pastoralreferentin (seit wann, wir hatten ja tatsächlich noch nicht miteinander zu tun). Haben Sie darüber hinaus Soziale Arbeit oder Sozialpädagogik studiert oder wie kommt es, dass Sie die Vertretung für Frau Markaj und die Begleitung verwaister und trauernder Eltern in der Gemeinde übernommen haben?
Genau. Ich bin Pastoralreferentin und seit 2016 im pastoralen Dienst tätig. Zunächst einige Jahre in der Berufseinführung auf zwei Stellen im Stadtbezirk Münster und seit dem Herbst 2021 in Lengerich, wobei dieser erst recht kurze Zeitraum bereits unterbrochen wurde von einer 13 monatigen Elternzeit.
Im Studium gab es früh die Möglichkeit, Studienschwerpunkte nach eigenem Interesse zu wählen. Wann immer es die Gelegenheit gab, habe ich mich in den Bereichen Trauerseelsorge, Begräbnis- und Bestattungskultur sowie Gesprächsführung eingeschrieben.
Das Interesse kommt sicher daher, dass ich über die Tätigkeitsfelder meiner Eltern bereits ab früher Kindheit die Arbeit im Begräbnisdienst sowie der Arbeit von Kinderpalliativstationen und Hospizen kennengelernt habe. Bereits als Kind habe ich gespürt, wie wertvoll es für Betroffene ist, wenn sich jemand ganz unbefangen und mit viel Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Trauer zuwendet.
In der Berufseinführung wurde ich dann unter anderem auf den Begräbnisdienst und die Gestaltung von Trauergesprächen vorbereitet, was mich in meinem Wunsch, in diesem Bereich tätig zu werden weiter gestärkt hat.
Rein stellenmäßig bin ich die direkte Nachfolge von Norbert Brockmann angetreten, der die Arbeit mit den trauernden Eltern in seiner Zeit in Lengerich aufgebaut hat. Barbara Markaj hatte diesen Bereich aber bereits mit großer Kompetenz übernommen, sodass zunächst ein Gedanke war, zusätzlich zu ihrem bisherigen Tätigkeitsfeld den Bereich der Sternenkinder stärker in die Seelsorge mit einfließen zu lassen. Die Elternzeit von Barbara Markaj lässt mich nun zunächst ihre Vertretung übernehmen und wir werden dann nach ihrer Rückkehr miteinander schauen, wie wir im Team weiterarbeiten.
Und nun zu meinen Fragen:
Inwiefern unterscheidet sich der Tod des eigenen Kindes von anderen Todesfällen?
Es ist die Ungleichzeitigkeit! Einige der Eltern, die ich begleite, haben neben dem Verlust ihres Kindes auch bereits ihre Eltern verloren. Ein Vater hat es einmal sehr passend zusammengefasst: „Wenn deine Eltern sterben, dann stirbt deine Vergangenheit. Wenn dein Kind stirbt, dann stirbt deine Zukunft“
Können Eltern, die ein Kind verlieren, je wieder glücklich sein?
Nun, ich würde sagen, es ist ein langsames Herantasten. Es ist immer wieder ein Thema in den Trauergruppen, wie Glück erlebt wird und auch erlebt werden darf. Vor allem die ersten Male nach dem Verlust empfinden viele Eltern ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich beim Lachen „erwischen“. Dann hilft es, von anderen Eltern zu hören, dass das nicht nur in Ordnung, sondern auch wichtig und richtig ist. Mit der Zeit kann es dann mehr und mehr gelingen, wieder offen zu werden für kleine Glücksmomente, irgendwann vielleicht auch für ungetrübtes Glück. Die Trauer aber bleibt – auch und manchmal gerade in Glücksmomenten. Das Glück anderer zu teilen und zum Beispiel auf Hochzeiten oder Geburtstagen mit zu feiern bleibt oft schmerzhaft und schwer.
Wie gelingt es Betroffenen, einen solchen Verlust als Teil ihrer Lebensgeschichte anzunehmen?
Das ist sehr unterschiedlich und hat viel mit den äußeren wie inneren Ressourcen zu tun, die den Betroffenen zur Verfügung stehen.
Zunächst ist es wichtig, den Verlust im Bewusstsein integrieren zu können. Das Kind in den Tod zu begleiten oder zumindest die Möglichkeit zu haben, es (auch nach einem Unfall, Suizid oder Mord) noch einmal zu sehen und berühren zu können ist elementar wichtig, um den Tod buchstäblich zu beGREIFEN. Wenn der Abschied verwehrt bleibt, und das passiert leider viel zu häufig, ist es ein großer Kraftakt, dieses Wissen um den tatsächlichen Tod zu integrieren.
Eine würdevolle Beisetzung des Kindes kann dabei helfen, den Übergang des Kindes in eine neue Daseinsform begreifbar zu machen.
Weiterhin denke ich an das Umfeld. Ist es möglich, mit Freund*innen oder der Familie über das verstorbene Kind zu sprechen? Denken nahestehende Menschen an die Geburts- und Todestage des Kindes? Fragen Sie nach dem Kind, sprechen Sie seinen Namen noch aus? Dürfen trauernde Angehörige über ihr Vermissen und ihre Ohnmacht, aber auch über ihre Wut offen sprechen?
Das kann etwas verändern. Für trauernde Eltern und Angehörige geht es nicht darum, den Verlust bzw. das Leben des Kindes abzuschließen, also zu einem Ende zu bringen. Lange ist dies Trauernden so suggeriert worden. Für Trauernde aber bleibt die Beziehung zu ihrem Kind ein Leben lang. Für diese Beziehung eine Form zu finden und diese auch im Außen benennen zu dürfen, kann helfen.
Der weitere Trauerprozess ist dann immer auch davon abhängig, wie resilient ein Mensch ist. Diese Resilienz ist nicht nur bei Trauernden ganz unterschiedlich stark. Es gibt trauernde Eltern, die mich ganz tief beeindrucken, weil sie eine unglaubliche innere Stärke haben und den Wunsch, in eine neue Lebendigkeit hereinzufinden. Ihnen reichen oft kleine Erfahrungen als Kraftquellen und sie sind auf einem guten Weg, aus ihrer Krise mit neuer Kraft hervorzugehen. Anderen Eltern fällt das schwerer. Ihnen kann es helfen, eine gute Begleitung in einer Therapie, einer Trauerbegleitung oder einer Reha zu erfahren. Und hier ist es leider oft ein Roulettespiel, ob das gut tut oder nicht – aber das ist wieder ein anderes Thema.
Machen alle trauernden Eltern dasselbe durch und macht es einen Unterschied, ob ein Kind nach langer Krankheit oder plötzlich durch einen Unfall stirbt?
Alle Eltern, die ein Kind verloren haben, ganz egal in welchem Lebensalter und unter welchen Umständen stehen vor der gleichen Situation: Ihr Kind ist physisch nicht mehr anwesend.
Eine Mutter, die ihr Kind über lange Zeit gepflegt hat sagte kürzlich: „Ich freu mich so für sie, dass sie es geschafft hat. Ich bin sicher, es geht ihr gut. Aber ich, ich muss weiterleben“
Und ja, dieses Weiterleben nach dem Verlust des eigenen Kindes ist unheimlich stark von der Zeit davor beeinflusst:
Gab es eine gemeinsame Gewissheit über den eintretenden Tod? Gab es die Möglichkeit, Abschied zu nehmen oder wurde er durch die Pandemie, einen Unfall, die Selbsttötung des Kindes verwehrt?
Gab es eine lange Zeit der Belastung durch Pflege oder Krankheit, die dem Tod vorausgegangen ist?
Die Frage nach „dem Warum“, aber auch die Frage nach eigener/ fremder Schuld stellt sich für Eltern, die ein Kind durch einen Unfall, durch Suizid oder durch Mord auf eine ganz andere Weise als für Eltern, deren Kind durch eine Krankheit verstorben ist.
Alle Eltern aber sind damit konfrontiert, dass neben dem Verlust des Kindes auch Verluste im sozialen Umfeld passieren. Viele Eltern sind zum Beispiel in Freundeskreisen verwurzelt, die mit Geburt-, Kita- und Schulzeit der Kinder entstanden sind. Auch, wenn sich ein Freundeskreis bemüht – und das ist nicht selbstverständlich – fühlen sich Eltern nach dem Verlust des Kindes hier oft verloren und erleben schmerzhaft, wie andere Kinder die nächsten Entwicklungsschritte gehen, während ihr Kind diese nicht mehr erleben darf.
Warum tut sich die Umwelt - Freunde und Arbeitskollegen - oft so schwer, auf einen solchen Todesfall angemessen zu reagieren?
Die fehlende oder unangemessene Reaktion auf den Todesfall wird von „meinen Eltern“ sehr selten beklagt. Im Gegenteil: Die erste Anteilnahme ist meist sehr groß. Der Tod eines jungen Menschen löst eine große Betroffenheit aus.
Mit der Zeit aber wird es dann sehr still.
Nach den ausgesprochenen Beileidsbekundungen, bei denen wir uns oft noch hinter Floskeln verstecken können, kommt die Sprachlosigkeit – und die wiederum zeigt eine Hilflosigkeit auf verschiedenen Ebenen:
Es ist die Hilflosigkeit im Umgang mit Gefühlen, mit den eigenen und denen der anderen. Viele Menschen haben in ihrer Erziehung nicht erleben dürfen, dass Gefühle eine Relevanz haben. Sie haben nicht gelernt, die eigenen Gefühle ins Wort zu bringen und damit auch selten erlebt, dass andere Menschen ihnen ihre Gefühle zeigen. Trauernde jedoch zeigen ihre Gefühle oft sehr unmittelbar.
Aus dieser Hilflosigkeit heraus wird dann oft versucht, einen guten Tipp zu geben – und das führt bereits in die nächste Hilflosigkeit. Denn was rät man einer Mutter oder einem Vater, die ihr Kind verloren haben.
Es ist die Hilflosigkeit, dem Tod in seiner Endgültigkeit zu begegnen und die damit einhergehende Ohnmacht auszuhalten. Und es ist die Hilflosigkeit, dass Trauer/ Tränen in Momenten kommen, in denen das Umfeld vielleicht gar nicht damit rechnet, nämlich in Augenblicken, die von anderen als sehr schön empfunden werden: Geburtstage, Hochzeiten, Familienfeiern zum Beispiel
Woher kommen die Familien, die Sie begleiten? (Sie deuteten an, dass es im Umkreis von Lengerich nur wenige Angebote für Eltern gibt, die um ihre Kinder trauern). Und wie erfahren die Familien, dass es Sie gibt?
Die Eltern, die wir begleiten kommen aus dem gesamten Tecklenburger, Steinfurter wie Osnabrücker Land. Auch aus dem Osnabrücker Land, den Stadtbezirken Münster, Rheine und Warendorf fahren Eltern nach Lengerich.
Es ist nicht so, dass es an anderen Orten keine Angebote für trauernde Eltern gibt. Wenn ein Kind zum Beispiel im Klinikum auf der Onkologie verstirbt, gibt es dort oft eine Trauergruppe für betroffene Eltern. Für die Eltern ist dieses Angebot sehr wertvoll, weil sie andere Eltern oft bereits von der Station und der gemeinsamen Zeit der Begleitung kennen.
Auch Familienbildungsstätten oder Hospizdienste bieten Trauergruppen für Eltern an. Diese Gruppen sind jedoch meist auf 6 oder 12 Monate begrenzt und je nach Anbieter auch kostenpflichtig.
Wir können unsere Arbeit für die Betroffenen unentgeltlich anbieten und es gibt keine Begrenzung der Teilnahme. Das ist für Eltern oft entlastend.
Viele trauernde Eltern, die zu uns kommen, waren vorher bereits in einer zeitlich begrenzten Trauergruppe und stellen fest: Wir schaffen das noch nicht. Unsere Trauer ist nicht zu Ende, und auch nach einem Jahr sind es immer neue Herausforderungen in diesem neuen Leben– Ohne mein Kind, mit der Trauer.
Die meisten Eltern, die zu uns kommen, haben aus dem Bekannten- oder Freundeskreis den Hinweis bekommen. Oft berichten sie aber auch, dass sie lange gesucht haben.
Wie sieht Ihre Arbeit ganz praktisch aus?
Da sind zunächst einmal die Gruppentreffen. Diese finden monatlich statt und bieten Raum, von den Erlebnissen seit dem letzten Treffen zu berichten. Bei diesem Austausch biete und halte ich den Rahmen, moderiere, spreche Mut zu. Oft ergeben sich aus dem Erzählten Themen und ganz konkrete Fragen, auf die ich dann eine fachliche Perspektive anbieten kann. Für Eltern ist es wichtig zu erleben: Ich bin in meiner Trauer nicht komisch oder seltsam. Ich darf mir Zeit lassen. Die Trauer bleibt – Und das ist gut. Und doch kann ich zurückfinden in eine neue Lebendigkeit und auch in eine neue Kraft.
Bei konkreten Fragen nach Opferschutz, Grabgestaltung, Erinnerungsschmuck oder finanziellen Veränderungen ist es dann viel Netzwerkarbeit und Wissen um die Angebote vor Ort.
Darüber hinaus gibt es immer wieder auch Einzelkontakte zu Familien. Das kann der gemeinsame Besuch am Grab sein oder die Begleitung zu einem schweren Termin beim Opferschutz, die Hilfe bei der Entscheidung vor Ort, das Zimmer des Kindes nach 3 Jahren auszuräumen oder ein Besuch bei der ehemaligen Schulklasse des Kindes. Diese Zeit ist für mich besonders wertvoll, aber leider auch oft zu knapp.
Und dann gibt es – und das ist nie planbar – den Erstkontakt zu Familien. Der Anruf kann jederzeit kommen. Dann braucht es die schnelle Zusage: Ich habe Zeit für Sie. Wann wollen wir uns sehen und was brauchen Sie? Was kann ich Ihnen jetzt in diesem Moment Gutes tun. Nach einem ersten Kennenlernen schaue ich dann mit der Familie, ob ein Kontakt zur Gruppe bereits das richtige ist oder ob es erst eine Einzelbegleitung braucht.
Kümmern Sie sich ausschließlich um trauernde Eltern oder auch um die hinterbliebenen Geschwister? Und wie sieht diese Arbeit aus?
Der Schwerpunkt meiner Arbeit ist die Arbeit mit den Eltern. Natürlich ist dabei aber immer das ganze Familiensystem im Blick, für das wir ebenfalls Unterstützung und Beratung anbieten. Wenn Frau Markaj zurück ist gelingt es sicher auch wieder, die Geschwisterkinder einzuladen und miteinander in Kontakt zu bringen. Dafür war in den vergangenen Monaten leider wenig Zeit.
Am 10. Dezember findet der Gedenktag für verstorbene Kinder statt (ist das in jedem Jahr der 10. Dezember?). Wer organisiert ihn?
Die Initiative Weltweites Kerzenleuchten oder Worldwide Candle Lightning geht auf eine Initiative verwaister Eltern in den USA in den 90er Jahren zurück. Jährlich werden am zweiten Adventssonntag um 19h Ortszeit Kerzen in den Fenstern derer entzündet, die um ein verstorbenes Kind trauern. Durch die Zeitverschiebung geht so eine 24stündige Lichtwelle um die Welt. Hier in Deutschland wird die Initiative vom Bundesverband für verwaiste Eltern unterstützt und es gibt in vielen Orten Gedenkfeiern oder Gebetsstunden.
Sie bieten an diesem Tag einen Gottesdienst an. Wann beginnt er, wie wird er gestaltet? Findet er in St. Margareta statt? Kann jeder kommen?
Genau. Der Gottesdienst findet um 15.30h in St.Margareta Lengerich statt, das ist die Kirche, in deren Schatten auch die Gruppentreffen stattfinden.
Der Gottesdienst wird zusammen mit trauernden Eltern vorbereitet. Gertrud Stab, die in Lengerich im Beerdigungsdienst tätig ist und Trauergruppen begleitet wird den Gottesdienst zusammen mit mir feiern. Im Anschluss sind alle eingeladen, im benachbarten Gemeindehaus bei Punsch und Gebäck in den Austausch zu kommen.
Der Gottesdienst bietet Raum für Trauer, aber auch für die liebevolle Erinnerung an das Kind. Eine Mutter beschreibt es als „den Tag, an dem wir aus unserer Unsichtbarkeit heraustreten können, an dem wir auf einmal ganz viele mit der gleichen Sehnsucht sind“
Und das ist auch die Antwort auf Ihre Frage: Eingeladen sind alle trauernden Angehörigen, die eine Sehnsucht nach Erinnerung, nach Gemeinschaft, nach Zuspruch von Mut und Hoffnung haben. Gertrud Stab und ich sind im christlichen Glauben verankert und feiern den Gottesdienst unter diesem Vorzeichen. Und doch ist es uns mir das größte Anliegen, dass sich alle eingeladen fühlen. Unabhängig von Religion, Kirchenzugehörigkeit oder Weltanschauung.